Mein Gartenbaukino
Ich bin so alt wie das renovierte Kino – die Wiedereröffnung im Dezember 1960 fand nur wenige Woche vor meiner Geburt im Februar 1961 statt, das Kino hat mich sozusagen ein Leben lang begleitet. Hier habe ich als Bub den Film „In 80 Tagen um die Welt“ gesehen –mit der damals obligatorischen Pause und der Modeschau vorher, die bis in die 80er Jahre vor den Vorstellungen stattgefunden hat. Hier hab ich „ApokalypseNow“ von Francis Ford Coppola gesehen – nach dem Film saß ich wie verzaubert im Stadtpark, habe den Film nachwirken lassen und gefühlt nicht mehr verlassen. Ich dürfte damals allerdings doch irgendwie nach Hause gegangen sein. Ähnlich atemberaubend der Anfang von Steven Spielbergs „Saving Privat Ryan“ mehr als 20 Jahre später. Die ersten 20 Minuten, bei der Landung am Strand, habe ich aufgehört zu atmen. Als Tom Hanks die Emotionen in seiner Gruppe Soldaten auflöst, indem er seinen Beruf verrät, war ich überzeugt, dass die Academy keine andere Wahl haben wird, als ihm dafür den Oscar zu geben. Am Schluss, als besagter Privat Ryan (Matt Damon) am Soldatengrab seine Kinder fragt, ob er ein guter Mensch war, ob er es wert war gerettet zu werden, war ich mir sicher, nein, zu viel Pathos, kein Oscar. Was für ein Irrtum, Spielberg bekam damals den Oscar für die beste Regie, sein DoP Janusz Kaminski einen für die beste Kamera und drei weitere Oscars waren für bester Schnitt, Ton und Toneffekte. Hauptdarsteller Tom Hanks etwa ging leer aus, auch Komponisten-Gigant John Williams. Bester Film wurde damals übrigens „Shakespeare in Love“, unter den Produzenten des Films ein gewisser Harvey Weinstein – der Knaller der Oscars 1999 war aber Roberto Benigni, der nicht nur als bester fremdsprachiger Film sondern auch als bester Hauptdarsteller für „La Vita e bella“ ausgezeichnet wurde.
Stichwort Oscar – die Oscar-Nächte im Gartenbaukino wurden ein Fixpunkt, zuerst die Schau der nominierten Filme und dann die Oscar Verleihung, hatte etwas von den legendären Kinonächten im alten Stadtkino am Schwarzenbergplatz. Heuer findet die Oscar-Nacht bereits zum 15. Mal statt – gezeigt werden ab Mittag Steven Spielbergs Version der West Side Story, dann „Licorice Pizza“, Paul Thomas Andersons Geschichte über die Verwirrungen des Erwachsenwerdens vor einer Zeitreise in die 70er. Vor der Kamera Cooper Hoffman, Sohn des viel zu früh verstorbenen Schauspielgenies Philip Seymour Hoffman. Danach Spider-Man Andrew Garfield in einem mitreißenden Musicalfilm „Tick, Tick ... Boom“ über den Broadway Komponisten Jonathan Larson, dessen Musical „Rent“ den Broadway revolutioniert hat, der aber den Erfolg nicht mehr miterlebte – er verstarb kurz vorher mit 35 Jahren. Regie führt übrigens mit Lin-Manuel Mirinda, ein Regisseur und Komponist, der ebenfalls den Broadway mit seinem Musical „Hamilton“ revolutioniert hat.
"Alexander Hamilton ist einer der vergessenen Gründerväter der USA, der als Begründer des amerikanischen Finanzsystems gilt."
Dazu noch eine Ergänzung – „Hamilton“ kennt in den USA jedes Kind, meine Tochter, die 2019 ein Auslandssemester in den USA absolvieren wollte, dass dann durch den Ausbruch der Pandemie abgebrochen werden musste, erzählte, dass in den USA alle ganz narrisch danach waren. Neun Tony Awards machten es auch zu einem der erfolgreichsten Broadway-Stücke, in Europa ist es, der Pandemie wegen, noch nicht gelandet (mit Ausnahme des UK, wo das Stück 2018 angelaufen ist), im Herbst 2022 soll die deutsche Fassung (vor der mich der Sprache wegen ein wenig gruselt) in Hamburg Premiere haben, wer sich die Broadway Fassung ansehen möchte, mit der sogenannten Originalbesetzung – also Mirinda selbst in der Rolle als Alexander Hamilton, wird bei Disney+ und seit zwischen den beiden eine Kooperation vereinbart wurde, auch auf apple-tv fündig. In den USA hat das Musical eine fast noch nie da gewesene Welle an Interesse für die amerikanische Geschichte ausgelöst. Alexander Hamilton ist einer der vergessenen Gründerväter der USA, der als Begründer des amerikanischen Finanzsystems gilt. Ihm gelang es, trotz heftiger Widerstände, alles Bundesstaaten für die „vereinigten“ Staaten zu begeistern, in dem er als „Vereinigte Staaten“ deren Schulden aus dem Unabhängigkeitskrieg übernahm. Er warf schlicht die Notendruckpresse im Keller der damals in statu nascendi befindlichen Federal Reserve Bank an, streng genommen weder neu noch überraschend. Da er bei einem Duell getötet wurde, geriet er, anders als andere sogenannte Gründungsväter (so werden die 39 Delegierten der Philadelphia Convention bezeichnet, die am 17.September 1787 in Philadelphia die erste Verfassung der USA unterzeichnet hatten) in Vergessenheit. Ein sehenswertes Video, in dem Barack Obama über das Musical spricht.
Zurück zur Oscar-Nacht, nach „Tick, Tick ... Boom“ wird „Flee“ gezeigt, der dänische Beitrag in der Kategorie der für den besten fremdsprachigen Film nominierten Streifen (wo Österreich einmal mehr kilometerweit entfernt war auch nur zur Kenntnis genommen zu werden). Regisseur Jonas Poher Rasmussen erzählt die Geschichte einer Flucht , ohne den Protagonisten erwähnen zu dürfen und löst das über eine fiktive Figur in einem animierten Film. Um 23:00 Uhr startet dann Joachim Triers „The worst Person in the World“, in der Kategorie bester internationaler Film. Danach beginnt die Übertragung der Oscar Verleihung, wer Karten für die Vorstellung davor hatte, darf dort sitzen bleiben, Karten für die lange Nacht der Oscars gibst bereits online. Die Academy hat für heuer eine schwungvolle Show mit vielen Neuerungen versprochen, Oscar neu poliert sozusagen. Wer die Oscarverleihung eher für die langweilige Nacht der langen Oscars hält, ist jedenfalls mit der Auswahl der nominierten Filme bestens bedient und kann ab Sonntag Mittag sozusagen den halben Sonntag im Gartenbaukino verbringen, inklusive der Pausen im neu renovierten Buffetbereich.
Anfang der 1980er Jahre, die stadteigene KIBA war noch am Ruder, war ich Teil einer kleinen Truppe von z.T. heute angesehen Künstlern, Journalisten und damals Studenten, die heute zum Teil sehr ehrbaren Berufen nachgehen, die sich in den Cafes des 3. Bezirks herumtrieben und nicht selten zuletzt in den legendären Ungarstuben, Ecke Ungargasse/Münzgasse, landeten. Das Lokal hatte rund und um die Uhr offen und während der offiziellen Sperrstunde betrat man es durch den Hauseingang Münzgasse und die Küche – auch die Herren von der Polizei taten dies, wenn sie in der Früh Hunger hatten. Dort saßen, wie in allen legendären Nachtcafes der Wienerstadt, alle, wirklich alle, ganz entspannt beieinander: Kriminalbeamte, die Herren aus dem Straßen - Clubgewerbe und ihre diversen Mitarbeiterinnen, Studenten, Journalisten, Künstler, Nachtschwärmer – kurzum alle, die nicht ins Bett wollten. Gleich beim Eingang standen zwei „Dattelautomaten“, Glücksspielautomaten, damals noch nicht verboten und ein fixer Bestandteil dieser Sorte Etablissements.
"Dass im Kinosaal fast 400 Glühbirnen brennen, wurde mir dann in den frühen 2000er Jahren bewusst, so viele mussten wir nämlich gegen „blaue“ Glühbirnen austauschen, um den ganzen Saal in das Blau der Firmenfarben unseres Auftraggebers zu tauchen."
Ein besonders tragisches Schicksal hatte eine für uns damals ältere Dame, die dort stundenlang 10er um 10er (10 Schilling waren eine Münze, Papier begann erst mit dem 20er) hineinwarf. Bis kein 10er mehr da war, auch keiner mehr als „Gewinn“ herauskam, bis halt Schluss war. Die Stammgäste oder der Kellner oder die nicht minder legendäre Besitzerin spendierten ihr dann meist einen Kaffee oder einen Spritzer, schließlich war sie ja pleite. Die nächtlichen Ausflüge ließen sich ganz gut mit ihrem Beruf verbinden, denn sie musste erst am Nachmittag anfangen und hatte erst spätabends Dienstschluss, sie saß an der Kartenkassa des Gartenbaukinos. Keine weiteren Details, aber so kamen wir angeblich dereinst des öfteren zu Kinokarten aus dem wundersamen Reich der gemeindeeigenen KIBA. Dass wir am Konkurs der KIBA mit Schuld waren, ist aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Dass im Kinosaal fast 400 Glühbirnen brennen, wurde mir dann in den frühen 2000er Jahren bewusst, so viele mussten wir nämlich gegen „blaue“ Glühbirnen austauschen, um den ganzen Saal in das Blau der Firmenfarben unseres Auftraggebers zu tauchen. Wir betreuten damals die Vorführung von „AI“ von Steven Spielberg, in dessen Pause ein kleines Symposium zu diesem Thema stattfand. Der Kunde wollte „blau“, also tauschten wir, unter anderem, die Glühbirnen aus. Ein Satz, der beim Symposion gefallen ist, ist mir noch in Erinnerung geblieben: der damalige Rektor der Technischen Universität Wien meinte, wenn es so etwas wie künstliche Intelligenz gäbe, dann müsse auch natürliche Dummheit erlaubt sein.
Der heute vielbeachtete Regisseur Adrian Goiginger schließlich führte mich zwei Mal ins Gartenbaukino: wir drehten dort einen Teaser oder Moodfilm für die Einreichung seines Drehbuchs „12 Karat“ zur Herstellung, das DB wurde zwar nie verfilmt, weil wir die Finanzierung nicht schafften – aber der Teaser hat sich für Goinger bezahlt gemacht, er soll ausschlaggebend für seine Aufnahme an der Filmakademie des Landes Baden-Württemberg in Ludwigsburg gewesen sein (wir drehten drei Tage auf der Toilette des Gartenbaukinos und testeten damals auch die neuen LED Scheinwerfer von ARRI) – und ein zweites mal, ja, die Premiere von „Die beste aller Welten“ fand im Gartenbaukino statt und ich war der Einzige, der damals darauf bestand, da ich als Einziger davon überzeugt war, dass die Premiere im größten Kinosaal Österreichs nicht ausverschenkt sondern, zumindest zum Großteil, ausverkauft sein wird. Und so war es dann auch, ich war wieder in meinem Gartenbaukino, diesmal mit einem von mir produzierten Film auf der Leinwand. Post scriptum. Ich sitze noch immer gefühlt im Stadtpark und lasse es auf mich wirken.
Die Fotos vom Gartenbaukino stammen von dessen Website ©Christopher Mavric